DDR-Flucht mit Heißluftballon

„Unsere Stasi-Akte hat etwa 25 Kilo gewogen“

Im September 1979 flohen die Familien Strelzyk und Wetzel in einem selbst gebauten Heißluftballon aus dem thüringischen Pößneck über die innerdeutsche Grenze nach Bayern. Im Rahmen einer kleinen Vortragsreise auf Einladung von Bundestagsabgeordetem Andreas Mattfeldt, haben Doris (65) und Peter (70) Strelzyk unter anderem Schülern im Landkreis Verden ihre Geschichte erzählt. Maren Brandstätter sprach mit ihnen in einem Interview über ihre aufsehenerregende Flucht.

Sie haben anderthalb Jahre gebraucht, um ihre Flucht vorzubereiten. Saß Ihnen unentwegt die Angst im Nacken, erwischt zu werden?
Peter Strelzyk: Dazu war kaum Zeit. Wir mussten die Gondel bauen und Stoff besorgen. Dabei war es besonders wichtig, nur kleine Mengen zu kaufen, um nicht aufzufallen. Und auch die waren nicht einfach zu beschaffen, denn wir brauchten ja besonderen, luftdichten Stoff wie Nylon oder Regenschirmseide. 

Haben Sie für die Flucht geprobt?
Doris Strelzyk: Wir sind mit den Kindern immer auf eine abgelegene Wiese gefahren, um mit dem Ballon zu üben. Da war rundherum Wald und ganz in der Nähe fuhr die Eisenbahn und hat ordentlich Krach gemacht. Aber die Angst, entdeckt zu werden, war natürlich immer da.

Wie sind Ihre Kinder mit dieser Angst umgegangen?
Peter Strelzyk: Unsere Söhne waren damals 11 und 15 Jahre alt und haben das wohl eher als Abenteuer gesehen. Wir haben ihnen von Anfang an erklärt, was im schlimmsten Fall passieren könnte, und dass sie niemandem von dem Fluchtplan erzählen dürften. Selbst als wir dann in Bayern gelandet sind und ein Reporter unseren jüngeren Sohn interviewen wollte, ist der nicht mit der Sprache rausgerückt.

Hat er auch seinen Freunden gegenüber so eisern geschwiegen?
Peter Strelzyk: Ja, und das war ein Glück, denn er hat öfter mit dem Sohn eines Stasi-Offiziers gespielt.

War es nicht dennoch ein großes Risiko, die Kinder einzuweihen?
Doris Strelzyk: Sicher, aber es ging ja nicht anders. Wir hätten niemals eines unserer Kinder zurückgelassen, also mussten wir sie einweihen.

Mussten Sie Ihre Söhne zur Flucht überreden?
Peter Strelzyk: Nein, die haben den Druck schon als Kinder wahrgenommen. Der Große war gleich Feuer und Flamme.

Gab es einen konkreten Auslöser für Ihren Plan?
Peter Strelzyk: Der Bruder meiner Frau war mit zwei Freunden im Länderdreieck unterwegs und hat sich aus reiner Neugier erkundigt, wo denn die Grenze sei – er war damals gerade 15. Wenig später klickten die Handschellen und er ist für 20 Monate ins Gefängnis nach Dessau gekommen. Als er rauskam hatte er keinen Zahn mehr im Mund. Bei der Gerichtsverhandlung wurde er in Handschellen von vier ausgewachsenen Männern hereingeführt. Da hat‘s uns gereicht, das war ja fast wie im Nationalsozialismus – im Prinzip war‘s Rot-Faschismus.
Doris Strelzyk: Ein weiterer Grund waren die Haarschneideaktionen. Da haben Polizisten jungen Leuten mit Beatles-Frisuren einfach die Haare abgeschnitten.

Weder Sie noch jemand von der Familie Wetzel, mit der sie gemeinsam geflohen sind, waren von Haus aus Ballonflieger. Wo haben Sie sich das nötige Know-how geholt, ohne sich zu verraten?

Peter Strelzyk: Wir haben uns alles aus Fachbüchern angelesen. In der DDR gab es keine Heißluftballons, die kamen erst nach der Wende – wen hätten wir also fragen sollen? Da ich seinerzeit bei der Volksarmee als Flugzeugmechaniker ausgebildet worden war, war der Bau des Ballons nicht allzu problematisch. Ursprünglich wollte ich sogar einen Hubschrauber für unsere Flucht bauen, aber dafür gab es keinen geeigneten Motor. Wir hatten uns sieben Propangasflaschen besorgt. Drei zum Aufblasen des Ballons, und vier haben wir mitgenommen. Die Gondel maß gerade einmal 1,40 mal 1,40 Meter: Für acht Personen und vier Gasflaschen war das ziemlich eng.

Haben Sie heute noch Kontakt zu Familie Wetzel?
Doris Strelzyk: Losen Kontakt, wir waren ja mehr eine Interessengemeinschaft als richtige Freunde. Petra Wetzel hatte unzählige Anträge gestellt, um ihre Mutter im Westen besuchen zu können, aber die wurden immer wieder abgelehnt. Irgendwann hat es ihr dann gereicht, und so beschloss die Familie mitzukommen.

Sie hatten Wetzels also ins Vertrauen gezogen?
Peter Strelzyk: Günter Wetzel und ich waren Kollegen, und er hatte sich hin und wieder in diese Richtung geäußert. Also beschlossen wir, die Flucht gemeinsam anzutreten. Günter war es dann auch, der an dem Ballon fast alle Nähte gemacht hat. Eine Naht war 54 Meter lang, das war wahnsinnig viel Arbeit.

Ihre Geschichte wurde später in Hollywood verfilmt. Wie ging es Ihnen, als Sie Ihre eigene Flucht vor Augen geführt bekamen?
Doris Strelzyk: Ich konnte in der Nacht vor der Premiere kaum schlafen. Das war für mich sehr aufwühlend, da kam dann alles noch mal hoch.

Waren Sie mit der Umsetzung Ihrer Geschichte zufrieden?
Peter Strelzyk: 95 Prozent des Films entsprechen der Realität. Wir hatten gleich im Vorfeld klargestellt, dass wir keine Hollywood-Allüren wollen. Sonst hätten wir uns von dem Projekt distanziert, und das wäre für die Filmgesellschaft natürlich nicht gut gewesen.

Haben Sie nach dem Ende der DDR Einsicht in ihre Stasi-Akten genommen?
Peter Strelzyk: Ja. Die Seiten haben wir nicht gezählt, aber sie wogen etwa 25 Kilo. Im Westen waren 26 Stasi-Spitzel auf uns angesetzt gewesen. Der Übelste war ein vermeintlicher Freund, der angeblich aus der DDR ausgewiesen worden war. Der hat im Auftrag der Stasi dafür gesorgt, dass wir mit unserem Laden in Bayern Pleite gingen – das konnten wir später in unserer Akte nachlesen.

Sie waren in den vergangenen Tagen in mehreren Schulen unterwegs – wie haben die Schüler auf Ihre außergewöhnliche Geschichte reagiert?
Peter Strelzyk: Anfangs waren sie ein bisschen schüchtern, aber dann haben sie viele Fragen gestellt. Die wollen mit Zeitzeugen sprechen, das gibt ihnen mehr, als eine Plakatwand mit Informationen anzugucken – so bekommt Geschichte ein Gesicht. Unser Anliegen ist es, gegen das Vergessen zu erzählen.