Rastlose Kanzlerin

VON NORBERT HOLST

E ine kleine Sensation ist es schon, dass sie überhaupt auf dem Podium steht: Angela Merkel. Eben war sie noch bei Recep Erdogan in Istanbul, am Freitagabend beim Deutschlandtag der Jungen Union in Hamburg, obwohl sich der EU-Gipfel in Brüssel bis in die frühen Morgenstunden hingezogen hatte. Und nun Bremerhaven. „Ich komme nicht aus Berlin, auch nicht aus Istanbul. Die letzte Nacht konnte ich zum Glück in meinem eigenen Bett schlafen“, verrät die Kanzlerin nach einer Bemerkung von Moderatorin Conny Czymoch (Phoenix).

Die Erwartungen der 800 Teilnehmer der 9. Maritimen Konferenz in der Stadthalle sind groß. Die Verbände fordern weitere Entlastungen für die im harten Konkurrenzgeschäft stehende Branche. Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) formuliert kurz vor Beginn der Tagung: „Die Kanzlerin muss sich eindeutig zur maritimen Wirtschaft bekennen.“ Nach ihrer Rede wird er sagen: „Man merkt, dass sie von der Küste kommt.“

Vor allem die Reeder dürfen sich freuen: Merkel kündigt eine Neuregelung an, dass die Reeder die Lohnsteuer der unter deutscher Flagge fahrenden Seeleute komplett einbehalten können – bisher sind es 40 Prozent. Möglicherweise werden die Reedereien auch von den Beiträgen zur Sozialversicherung entlastet. „Wir werden uns damit beschäftigen“, verspricht die CDU-Vorsitzende. Nur noch rund 200 Schiffe fahren im internationalen Verkehr unter deutscher Flagge. Eckhart Rehberg, maritimer Experte der Unionsfraktion im Bundestag, ist zufrieden: „Wir haben die Chance, dass die deutsche Flagge im europäischen Maßstab wieder wettbewerbsfähig werden kann.“

Auch für die Schiffbauer gibt es gute Nachrichten. Der Bund will den Fördertopf für innovativen Schiffbau um zehn auf 25 Millionen Euro aufstocken. Die Länder, die bislang solche Projekte mit 50 Prozent kofinanzierten, sollen dann nur noch ein Drittel dazugeben – macht in der Summe 37,5 Millionen. Die Crux: Wenn die Länder nicht mitspielen, gibt es auch kein Geld vom Bund. Bislang fehlt dem Vernehmen nach ausgerechnet aus dem Küstenland Niedersachsen eine feste Zusage. Das macht den Langwedeler Bundestagsabgeordneten Andreas Mattfeldt (CDU), der das Finanzierungsmodell mitinitiiert hat, schier fassungslos: „Diese Haltung ist eine industriepolitische Katastrophe.“

Wer als Politiker in Bremerhaven zu Gast ist, kommt am Thema Offshore-Windenergie nicht vorbei – das gilt auch für die Kanzlerin. „Ich habe leise Kritik gehört“, sagt sie mit leicht verschmitzter Mine. Melf Grantz, SPD-Oberbürgermeister der Seestadt, hatte in seiner Begrüßung zur Deckelung der Offshore-Ausbauziele deutliche Worte gefunden: „Die Rücknahme von Ausbauzielen ist kontraproduktiv.“ Auch die geplante staatliche Ausschreibung für planerisch fortgeschrittene Projekte auf hoher See haben Teile der Branche alarmiert. Jens Eckhoff, Präsident der Stiftung Offshore-Windenergie, plädiert wegen der langen Vorlaufzeit der Projekte der Projekte für mehr als eine Auktion. Zu Merkels Ankündigung von lediglich einer im Jahr 2017 sagt der Bremer: „Das ist eine Position, über die man weiter diskutieren muss.“

Natürlich widmet sich Merkel in ihrer rund 30-minütigen Rede auch den „Innovationstreibern“. Im Tiefseebergbau etwa sieht die Kanzlerin Deutschland in einer Vorreiterrolle. Die Bundesrepublik hat im Pazifik und im Indischen Ozean jeweils eine Lizenz zur Exploration. Die Technik soll vorangetrieben werden. Valerie Wilms, Bundestagsabgeordnete der Grünen, kritisiert die Vorhaben: „Wir wissen über das Ökosystem in der Tiefsee viel zu wenig, fangen aber bereits mit dem Raubbau an.“ Insgesamt steht Wilms der Kanzlerin-Rede reserviert gegenüber. „Das war das gesamte wünsch-dir-was-Sammelsurium“, sagt die Frau aus Pinneberg.

Die Reeder indes sind zufrieden. „Wir haben eine Kanzlerin, die die maritime Wirtschaft versteht und weiß, was diese braucht.“ Dabei hat Merkel keineswegs nur verbale Nettigkeiten verteilt. „Wir brauchen von Ihnen als Reeder ein klares Bekenntnis zur deutschen Flagge“, hatte sie gefordert. Ein Seitenhieb: Trotz früherer Entlastungen ist der Trend zur Ausflaggung ungebremst – entgegen den Versprechungen der Branche .

Auch am Ende ihrer Rede ist Merkel immer noch hoch konzentriert. Die Strapazen der vergangenen Tage und Wochen sind ihr nicht anzumerken. Dann muss sie auch schon wieder weiter. Den Ausklang des ersten Konferenztages wird sie verpassen: Im Rahmen eines Empfangs im Columbus Cruise Center besichtigen die Teilnehmer den neuen Kreuzliner „Norwegian Escape“. „Um das Abendprogramm beneide ich sie. Da wäre ich gerne dabei“, mit diesen Worten verabschiedet sich die rastlose Kanzlerin.

Weser Kurier vom 20.10.15