Streit über Redezeit von Abweichlern im Bundestag

Politik will Lammerts Rechte beschneiden

Wer im Bundestag reden darf, bestimmt der Parlamentspräsident im Regelfall auf Vorschlag der Fraktionen. Doch die Fraktionsspitzen von Union, SPD und FDP wollen Norbert Lammert das Recht beschneiden, allein darüber entscheiden zu können, auch Fraktionsabweichlern das Rederecht zu geben. Der CDU-Politiker freilich will einen solchen „Maulkorb“ nicht hinnehmen und hat dafür auch die Sympathien vieler Abgeordneter der Region.

Von DIETRICH EICKMEIER UND TOBIAS LANGENBACH Berlin. Bundestagspräsident Norbert Lammert zeigt sich von einem Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses des Bundestags unbeeindruckt. Der CDU-Politiker will auch in Zukunft Abgeordneten, die eine von ihrer Fraktion abweichende Meinung vertreten, im Bundestag das Wort erteilen. Die von Union, SPD und FDP geplante Änderung der Geschäftsordnung, wonach er das Rederecht für Abweichler nur noch „im Benehmen“ mit den Fraktionsführungen erteilen soll, hält Lammert „weder für notwendig noch für angemessen“, hat er den Ausschuss wissen lassen und angekündigt, dass er sich über die geplante Neuregelung hinwegsetzen werde. Denn die könne „weder die Rechtsstellung der Abgeordneten ändern noch die Verpflichtung des Präsidenten, den im Grundgesetz dargelegten Rechten der Abgeordneten Geltung zu verschaffen.“

Den Streit ausgelöst hatte Lammert, als er im vergangenen September bei der Debatte über den Euro-Rettungsschirm EFSF sowohl dem FDP-Abweichler Frank Schäffler als auch dessen CDU-Mitstreiter Klaus-Peter Willsch jeweils fünf Minuten Redezeit eingeräumt hatte, obwohl sie nicht auf der Liste ihrer Fraktionen standen. Das gehe gar nicht, befanden die Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen. „Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, bricht das System zusammen“, schimpfte Unions-Fraktionschef Volker Kauder. Und Thomas Strobl, CDU-Vorsitzender des Geschäftsordnungsausschusses, kritisierte die „missbräuchliche Ausweitung“ der vereinbarten Zeitkontingente. Die werden nach der sogenannten „Berliner Stunde“ nämlich nach Fraktionsstärken so aufgeteilt: Danach dürfen Unionsabgeordnete 23 Minuten sprechen, Liberale neun, SPD-Abgeordnete 14, Linke und Grüne je sieben Minuten.

Strobl bestreitet freilich, dass es sich bei der geplanten Neuregelung um einen Maulkorb handele. Denn das Recht der Abgeordneten auf eine „Erklärung zur Abstimmung“ bleibe bestehen, auch wenn diese künftig schriftlich zu Protokoll gegeben werden sollten und der Bundestagspräsident nur noch ausnahmsweise mündliche Erklärungen zulassen dürfe. Die sollen dann aber nicht mehr fünf sondern höchstens drei Minuten dauern. Denn Abgeordneten, die anderer Meinung seien als ihre Fraktionen, könne man das Rederecht gar nicht entziehen. Dies sei ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht.

Viele Abgeordnete sind dennoch eher auf Lammerts Seite. Gerade auch Parlamentarier aus Bremen und Niedersachsen halten nichts von einer Beschränkung des Rederechts. „Die Fragen nach Euro-Rettungsfonds und Griechenland-Rettungspaket waren mit hoher Verantwortung verbunden“, sagt der Bremer SPD-Abgeordnete Uwe Beckmeyer. Bei solchen Fragen gehe es nicht um simple Ja- oder Nein-Antworten, vielmehr sei hierbei die ganz persönliche Haltung des Abgeordneten gefragt.

CDU-Kollege Andreas Mattfeldt aus Langwedel stimmt zu. Seinen Fraktionschef nimmt er aber in Schutz. Dessen Äußerung habe sich eher auf alltägliche Sachfragen bezogen. Kauder habe unterstreichen wollen, dass nicht vor jeder Entscheidung alles zerredet werden könne.

Anders sieht das die Bremer Linkspartei-Abgeordnete Agnes Alpers. „Kauder möchte einfach nicht, dass unterschiedliche Standpunkte seiner Fraktion nach außen dringen.“ Lammert habe „gut und vernünftig gehandelt“, sagt der Bremer FDP-Abgeordnete Torsten Staffeldt. Er habe zugelassen, dass Konflikte nicht nur zwischen den Fraktionen, sondern eben auch innerhalb der Fraktionen für die Öffentlichkeit nachvollziehbar werden. „Das Parlament soll Vielfalt zum Ausdruck bringen“, pflichtet Marieluise Beck von den Grünen bei. Zu oft würde die Redezeit der Fraktionen auf ihre Vorsitzenden gebündelt, deren Haltung eh schon bekannt sei, so die Bremer Abgeordnete.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG, Datum: 10.04.2012