„Wer flüstert, will betrügen“

In Grasberg wird vor 15 Besuchern kontrovers über das umstrittende TTIP-Abkommen diskutiert

VON KLAUS GÖCKERITZ
Grasberg.Selbst Europa-Parlamentarier haben es schwer, sich über Einzelheiten des geplanten Handelsabkommens zu informieren. Wollen die Abgeordneten die Texte zum Transatlantischen TTIP-Abkommen zwischen Europa und den USA einsehen, werden sie in einen fensterlosen Leseraum geführt – nachdem sie ihr Handy abgegeben haben. Wer es bis zu den Dokumenten geschafft hat, sieht nur die Positionen, mit denen die Europäische Kommission in die Verhandlungen geht. Die Positionen der USA bleiben im Dunkeln. Dies berichtete die Europaabgeordnete Helga Trüpel (Grüne) im Verlauf einer Podiumsdiskussion in Grasberg, in der es um ein höchst umstrittenes Handelsabkommen ging. Und nicht nur die Grünenpolitikerin warnte vor Risiken, fehlender Transparenz und Gefahren. 
TTIP – so nennt sich die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, die seit rund zwei Jahren hinter verschlossenen Türen verhandelt wird und den Handel zwischen Europa und den USA erleichtern soll. Befürworter erwarten mehr Wachstum und Beschäftigung. Kritiker fürchten um Demokratie, Verbraucherschutz, die Rechte von Beschäftigten und die Absenkung von europäischen und deutschen Standards. Insbesondere ein Investitionschutzabkommen, das Konzernen unter Einsatz von Schiedsgerichten erlaubt, ganze Staaten auf Schadensersatz zu verklagen, stößt auf Widerstand. „Es gibt keinen Grund, den Konzernen in Staaten mit entwickelten Rechtssystemen auf diese Weise noch Vorteile zu verschaffen“, sagte der Ökonomieprofessor Rudolf Hickel in Grasberg. Und es gebe weltweit viele Beispiele dafür, dass US-amerikanische Konzerne wegen vermeintlicher Wettbewerbsnachteile wenig zimperlich vorgingen. 
Private Schiedsgerichte darf es auch aus Sicht der Bundestagsabgeordneten Christina Jantz (SPD) nicht geben. Eine eigene Gerichtsbarkeit würde die Rechte der Parlamente aushebeln, bekräftigte auch Helga Trüpel, die zudem auf Risiken für den Umweltschutz, die Landwirtschaft und den Arbeitsschutz hinwies. Sollten sich in den Verhandlungen die US-amerikanischen Standards durchsetzen, wäre auch die kulturelle Vielfalt in Gefahr. 
Der CDU-Politiker Andreas Mattfeldt unterstützt TTIP. Er wies in der Diskussion wiederholt auf die Vorteile und „Chancen für Beschäftigung und Wachstum“ hin. Handelsabkommen sind aus Sicht des Bundestagsabgeordneten per se nichts Schlechtes. Deutschland sei eine Exportnation, vom Abbau von Handelshemmnissen mit den USA könnten auch kleinere Firmen profitieren, warb Mattfeldt – auch mit Hinweis auf eine eigene kleine Unternehmung in der Tiernahrungsbranche. Von Wachstum und Beschäftigungseffekten könne keine Rede sein, erwiderte Rudolf Hickel. Eine Bertelsmann-Studie belege genau das Gegenteil. Sowohl Wachstum als auch Beschäftigung würden demnach nur unbedeutend steigen. Für Hickel ist TTIP überflüssig. Schon jetzt würde der Handel mit den USA florieren, wie das Beispiel vieler Unternehmen beweise. Dass die EU und Deutschland bei den Verhandlungen „über den Tisch gezogen werden“ und Standards abgesenkt werden, glaubt Mattfeldt dagegen nicht. „Wir können Qualität, das wird sich durchsetzen.“ Und schließlich habe Deutschland auch von der Globalisierung profitiert. Christina Jantz bezweifelte, dass deutsche Unternehmen auf eine Vereinbarung wie TTIP warten. Die Wirtschaft sei nach ihren Beobachtungen eher abwartend.
IHK erkennt Vorteile durch TTIP
Die Vorbehalte der Politik und des Ökonomen teilte Hubert Bühne von der Industrie- und Handelskammer (IHK) so nicht. Insbesondere der deutsche Mittelstand würde vom Abbau von Handelshemmnissen profitieren. Allein der Wegfall der Zölle würde einen Effekt von jährlich etwa 2,7 Milliarden Euro ausmachen. Bühne verwies zudem auf ein bestehendes Abkommen mit Südkorea, das im Handel über einen Zeitraum von rund fünf Jahren einen Umsatzanstieg von 30 Prozent ausgelöst habe. Hickel hält das geplante Abkommen für überflüssig. Deutschland sei schon jetzt Exportweltmeister, da brauche es kein TTIP. Der Ökonom forderte, die Europäer sollten einen Katalog mit Mindestforderungen aufstellen. Eine Egalisierung nach unten dürfe es auf keinen Fall geben. „Wenn die USA das nicht mitmachen wollen, lassen wir das Ganze“. Helga Trüpel sieht derzeit keine einvernehmliche Haltung aller Fraktionen im EU-Parlament. Deshalb müsse weiter aufgeklärt und mehr Transparenz geschaffen werden. Beim Thema Transparenz hatte Mattfeldt eine andere Wahrnehmung. Kein Abkommen sei bisher so transparent wie TTIP verhandelt worden, behauptete der Bundespolitiker aus dem Kreis Verden. Von Transparenz sei man grundsätzlich noch weit entfernt, hatte Trüpel dagegen erklärt. Erst die Enthüllungsplattform Wikileaks habe über das geplante Abkommen und die geheimen Verhandlungen zum transatlantischen Bündnis aufgeklärt. Und auch das Publikum hatte seine Zweifel. Das Ganze erinnere ihn mehr an „Wer flüstert, will betrügen“, sagte ein Besucher. 
Moderator Peter Hanuschke, Wirtschaftsredakteur des WESER-KURIER, hatte zu Beginn der Runde das Publikum im Saal abstimmen lassen. Vor der Diskussion sprachen sich wenige Besucher für das geplante Abkommen aus, die Mehrzahl war unentschlossen. Am Ende der Runde waren die Fronten klarer: Die Befürworter waren weiter in der Minderheit, die überwiegende Zahl der rund 150 Gäste im voll besetzten Saal stimmten gegen TTIP.

Osterholzer Kreisblatt und Wümme Zeitung vom 27.06.2015